Persönliche Erinnerungen an Günter Bust

von Marita Kreische, geborene Bust (die Nichte)

 

„Es bildet ein Talent sich in der Stille,

sich ein Charakter in dem Strom der Welt.“

Diese Zeilen aus  Goethes Toquado Tasso würde ich wohl heute noch nicht kennen, wenn es nicht den Menschen Günter Bust gegeben hätte. Zu seinem Lebensweg gehörte es, ständig offen zu sein für Neues, sich nicht zufrieden zu geben mit dem Erreichten, neugierig zu bleiben in allen Lebensbereichen, die seinen Strom der Welt ausmachten, sein Talent auf vielen Gebieten zu erproben.

Damals ließ ihm die Quizfrage einer Zeitung  keine Ruhe, er wollte unbedingt wissen, woher dieses ihn interessierende Zitat stammte. - Auch ohne Computer hatte er es in Rekordzeit herausgefunden, indem er die richtige Seite des Zitatenlexikons fand.

Ich war damals als Teenager  schwer beeindruckt, dass ein Mensch, der aus meiner Sicht  eine Menge mehr kannte und konnte als ich, immer wieder den inneren Antrieb verspürte, sich auf  vielen Gebieten mit Neuem auseinanderzusetzen.

So manches Mal nutze er seine wenige Freizeit auch, um durch die Natur zu streifen und ihre Klänge, Düfte, Farben und Stimmungen in sich aufzunehmen. Ich kann mich nicht nur an das frostige Knirschen unserer Skier bei Winterausflügen um Schönebeck erinnern, sondern auch an Urlaubstage im Sommer, in denen wir fröhlich durch den Wald wanderten, und ich das Lied von der Lüneburger Heide – dem wunderschönen Land nach kurzer Zeit mitsingen konnte.

 

Sein Beispiel, als Lehrer tätig zu sein, habe ich viele Jahre wohl eher unbewusst wahrgenommen - bis zur Goldenen Hochzeit meiner Eltern. Ihnen zu Ehren hatten die beiden Enkelinnen von Günter Bust ein paar keine Musikstücke  eingeübt. Als der große Moment  des Vorspielens gekommen war und beim ersten  und auch beim zweiten Versuch  nicht alles gleich so klappte, wie sie es geübt hatten, half auch das gut Zureden ihrer  Oma nicht mehr. Eines der beiden Mädchen wollte aufgeben. Günter Bust schaute  einen Augenblick diesem Aufruhr zu, setze seine Viola an und begann mit einem keinen Vorspiel – die Mädchen, angespornt von seinem Beispiel, fanden dieses mal beide den richtigen Einsatz und spielten das Stück zu Ende.

In dem Moment ist mir erst  richtig klar geworden, was für ein mitreißender Lehrer Günter Bust durch sein Vorbild war. Sogar zu diesem Zeitpunkt, als ihn seine Krankheit schon geschwächt hatte, zeigt er allen, dass Lehrer zu sein für ihn eine zum Beruf gewordene Berufung war.

 

Wenn ich an meine früheste Erinnerung denke, sehe ich ein Foto vor mir – ein altes schwarz-weiß-Bild eines mit raumgreifenden Schritten vorwärts stürmenden jungen Mannes, der sich durch nichts aufhalten läßt – nicht die fadenscheinigen, um die dürren Knie schlotternden Hosen, nicht die unbequemen Igelittschuhe und erst recht nicht durch den ewig knurrenden Magen.

Es ist ein Sommer Ende der Vierziegerjahre. Ich bin noch nicht geboren – und trotzdem prägt sich mir dieses Foto ein, als es in meine Hände gelangt – durch die Geschichte, die mir der dahineilende  junge Mann später dazu erzählte, um mir seine Gedanken und Gefühle  nahe zu bringen: Das Brot war in dieser Zeit der Lebensmittelkarten wirklich noch ein Überlebensmittel, ein gefüllter Magen keine regelmäßige Selbstverständlichkeit.

In jedem seltenen Fall, dass Brot und Wurst mal gleichzeitig da waren, wurde mit Wilfried, seinem jüngeren Bruder, geteilt.  Und es wurde gerecht geteilt. Jeder bekam als seinen Anteil eine Scheibe Bratwurst. Dieses eine Scheibchen wurde auf den Anfang der Schnitte platziert. Bei jedem Bissen duftete die Wurst verführerisch, aber sie wurde nicht gleich aufgegessen, sondern so lange auf der Schnitte weiter geschoben, bis der letzte Happen erreicht war.  Dann endlich konnte die Vorfreude des Riechens  durch die noch größere Freude des Schmeckens abgelöst werden.

Das ist Günter Bust in Erinnerung geblieben.  Das und die Schlussfolgerungen:  Es kann durchaus die Freude an einer Sache erhöhen, wenn sie nicht gleich oder in gewünschtem Maß zur Verfügung steht. Und:  Wenn wenig da ist, wird es besonders wichtig, gerecht zu teilen und das Wenige clever zu nutzen.

 

Wie aktuell erscheinen mir seine Ansichten gerade heute, in Zeiten, wo man „out“ ist , wenn man sich  nicht schnell genug mit den neuesten Erzeugnissen präsentieren kann – egal , ob man sich dabei verschuldet, völlig nebensächlich, ob man dadurch  seine Gesundheit riskiert oder der Natur schadet. Auf einer Stufe mit anderen zu stehen, ist sowieso ein  Horror und unerträgliche Gleichmacherei; wer hat denn da noch Lust zu teilen - und dann auch noch gerecht? Alles hat - schnell - vollkommem - sich von anderen abgrenzend  zu sein.

Wenn ich diese Entwicklungstrends bedenke, muss ich ihre immer weitere Entfernung von den Zielen und Idealen des Günter Bust  feststellen.  Mir wird  immer  klarer, dass in seinen prägenden Erfahrungen  der Schlüssel zu  seinen grundlegenden politischen Einstellungen zu suchen war. Mit seinen Ansichten, die für manch Einen unbequem waren, hat er bis zuletzt humanistische Ziel vertreten. Er strebte eine Welt an mit gleichen Chancen für die Entwicklung aller Kinder. Eine Welt mit einem durch eigene Arbeit gesicherten Lebensniveau, ohne Superreiche oder Bettelarme. Eine Erde ohne Kriege sollte es sein.  In seiner Welt rückten die Menschen unterschiedlicher Sprachen und Nationen nicht erst durch Verträge zusammen.

Günter Bust, der seinen ältern Bruder Ernst während des größenwahnsinnigen Russlandfeldzuges verloren hatte, setze sich sein ganzes Leben dafür ein, dass sich Menschen verschiedener Völker besser verstehen lernten, nicht zuletzt dadurch, dass es selbst mehrere Sprachen sprechen konnte.  Insbesondere die russische Sprache war ihm als Kenner der Slawistik ans Herz gewachsen. Dazu hat er mir einmal folgendes Erlebnis erzählt:

Er war mit einer Reisegruppe in der Ukraine unterwegs. Auf dem Tagesprogramm stand eine Schiffsfahrt. Die Reisegruppe stand schon an der Schiffsanlegestelle. Nach einiger Zeit des vergeblichen Wartens sickerte die Nachricht durch, dass  der Reiseleiter plötzlich ausgefallen war. Einige wollten schon den Rückweg ins Hotel antreten.  Aber Günter Bust  sprang für den erkrankten Reiseleiter ein und konnte in kurzer Zeit alle anstehenden Fragen so klären, dass die Fahrt doch angetreten werden konnte.

An Deck  des Schiffes stand auch ein Mann, ein Russe , der die deutsche Delegation mit unfreundlichen Blicken bedachte. Dieser Mann hatte ihn ganz offensichtlich nicht als Mitglied der deutschen Reisegruppe erkannt. Er suchte Unterstützung für seine halblaut geäußerte Meinung, dass „hier schon wieder viel zu viele Deutsche“ seien, ausgerechnet bei Günter Bust.

Daraufhin fragte ihn der  ihn in seinem besten Moskauer Dialekt, ob er denn wüßte, was der größte Sieg der Roten Armee im 2. Weltkrieg gewesen sei. Der Griesgram blühte richtig auf und antwortete im Brustton der Überzeugung : „Natürlich Stalingrad!“, um dann überrascht ein genau so überzeugtes „Njet „ von Günter Bust zu hören. Der russische Reisende versuchte noch ein paar Mal andere militärische Schlachten anzuführen, erntete aber auch dann keine Zustimmung. Schließlich war er ganz außer sich und fuhr sein Gegenüber an, doch endlich zu sagen, was er meine. Darauf erklärte ihm Günter Bust: „ Dass wir beide – Sie und ich, ein Russe und ein Deutscher- hier heute stehen können  und  uns in Ruhe wie Freunde unterhalten, das ist der größte Sieg der Roten Armee!“  Sein Gegenüber hatte verstanden und schwieg erst einmal beschämt….

 

Günter Bust knüpfte Kontakte zu Menschen im Ausland natürlich nicht nur über Worte. Zu vielen Musikern, wie den Glockenspielern von Kleipeda, hatte er immer  ein herzliches Verhältnis. In mehreren gegenseitigen Besuchen wurden die freundschaftlichen  Kontakte vertieft und lebendig gehalten. Kurz vor einem erneuten Eintreffen seiner Freunde, wollte er noch einmal das  Glockenspiel im Turm  am Alten Markt überprüfen. Bei dieser Gelegenheit hat er mich mitgenommen und  mir gezeigt, wie schwierig es ist, so ein Carillon zu spielen. Schwierige Sachen spornten ihn aber immer wieder an  und er probierte gerade in alltäglichen Bereichen  gern  Ungewöhnliches aus.

Zu unseren gemeinsamen Naturerlebnissen gehörte z.B. das Pilze sammeln. Nicht nur so bekannte Exemplare wie Steinpilz,  Marone, Pfifferling oder Butterpilz wanderten in den Sammelkorb. Durch ihn lernte ich auch den Riesenschirmpilz oder Parasol kennen und später machte er mich mit der großen bunten Familie der Täublinge bekannt. Hier, wie in der Musik, liegen die Unterschiede zwischen schmackhaften, bekömmlichen oder schwer im Magen liegenden Exemplaren manchmal nur in kleinen Unterschieden…

 

Die Experimentierfreude von Günter Bust  zeigte sich für mich bereits am heimischen Frühstückstisch. Während bei anderen jeden Morgen oft das gleiche für den Start in den Tag sorgt, durfte es bei ihm auch ein Geschmacksexperiment sein. Ich habe folgendes Beispiel  nie selbst ausprobiert, aber nach seinem Urteil  soll saurer Hering mit Erdbeermarmelade viel besser schmecken als zu erwarten wäre.

Wer sich bei dieser Vorstellung innerlich schüttelt, dem sei versichert, dass Günter Bust nicht an Geschmacksverirrung gelitten hat. Als ein typischer Vertreter der Familie Bust war er allen Varianten schmackhaften Essens sehr zugetan.

Wenn er am Wochenende zwischen den verschiedenen Terminen und Proben einmal ausspannen und sich erholen konnte, kam er manchmal zum Bungalow meiner Eltern an die Elbe nach Fermersleben. Ganz gleich, was meine Mutter gekocht hatte, er hat sich immer gefreut, wenn für ihn vom Mittagessen noch etwas übrig war. Mit so einfachen Sachen wie einem Teller Kartoffelsuppe konnte man ihm eine Freude machen. Deshalb finde ich es besonders tragisch, dass er durch seine Krankheit die Fähigkeit zu Schlucken und damit auch zu essen und zu trinken eingebüßt hatte.

Trotz dieses riesigen Handycaps war er bis zuletzt aktiv, hat sein tägliches  Leben so gut es ging darauf einstellt. Er fühlte  sehr sensibel, dass seine Zeit nur noch begrenzt war. Bei meinem letzten Besuch war er, den ich so oft über einen neuen Witz habe lachen hören, sehr niedergeschlagen. Er hatte noch so vieles vor, war sich aber bewusst, dass seine Lebensuhr langsam ablief und er Einiges nicht wie gewünscht  würde zu Ende bringen können.

Über das Talent Günter Busts  als Musiker und Komponist zu sprechen, maße ich mir nicht an, dafür kenne ich mich in der Musik zu wenig aus. Aber ich hatte einen kleinen Anteil an seinem Weg, seinem Strom der Welt, der seinen Charakter geprägt hat und an den ich mich heute auf sehr persönliche Weise erinnern konnte.

Für mich wird er immer in Erinnerung bleiben als Onkel Günter.